Auch wenn sein Studium schon länger zurückliegt, ist Norbert Goertz Leistungsdruck an der Uni nicht fremd. Daniela Schuster und Mag.a Natascha-Simone Paul sprachen mit dem Dekan der Fakultät für Elektrotechnik & Informationstechnik über Gründe, Lösungsansätze und die Attraktivität einer Karriere in der Wissenschaft.
Text: Daniela Schuster

Im Gespräch mit Prof. Norbert Goertz
Steigt der Druck auf und für die Studierenden?
Ja. Ich glaube jedoch, dass dies mehr eine Folge der digitalen Moderne und eine Frage der Prioritätensetzung ist. Die Vielfalt der Optionen – Stichwort: Qual der Wahl – und die Vielfalt der Anforderungen sind sehr fordernd: etwa der Suche nach leistbarem Wohnraum oder generell die Finanzierbarkeit des Studiums und des Lebens. Etwa die Hälfte unserer Studierenden geht arbeiten. Auch die Tools, die sie nutzen (müssen), sind viel mehr geworden. Sie erleichtern zwar das Studium, doch muss man viel Arbeit reinstecken, um mit ihnen umgehen zu können. Und auch die erhöhte Erwartungshaltung an die Arbeitsergebnisse spielt natürlich eine Rolle.
Eine Uni ist sicher keine Wellness-Einrichtung. Dennoch: Die TU tut ja einiges, um den Studierenden zu helfen …
Es gibt an meiner Fakultät eine Arbeitsgruppe „Studierbarkeit“, die sich regelmäßig die Curricula ansieht, um Knock-out-Effekte zu reduzieren oder Bedingungsketten zu vermeiden, nach denen z. B. für ein Laborpraktikum eine Vorlesung vorher positiv bestanden sein muss. Während meines Studiums in Deutschland fand ich die eine Prüfung immer furchtbar, wo es klappen musste, sonst hieß es: ein Jahr warten. Heute gibt es Freischüsse, regelmäßige Wiederholungsoptionen, studienbegleitende Teilprüfungen, Übungspunkte. Das entlastet. Dennoch: Unnötige Hürden abzuräumen, bedeutet nicht, dass man keine Leistung bringen muss, und man muss motiviert bleiben.
Apropos Motivation: Wie schafft man es, dranzubleiben?
Es gibt an der TU zum Beispiel das Racing-Team und das Space-Team. Oder auch Lerngruppen. Das Studieren, Lernen, Weiterkommen wird zum Gemeinschaftssport. Man zieht einander mit, wie beim Joggen. Dann entstehen Flow-Momente. Wenn man dort reinkommt, ist viel gewonnen. Und ich glaube, dass das leichter ist, wenn man ein gemeinsames Ziel erreichen will.
Lässt sich das auch auf die Lehre übertragen?
Leute mitzureißen, ist eine Herausforderung. Zu erklären, wofür etwas gut und sinnvoll ist, hilft. Aber das ist gerade in Grundlagenfächern nicht leicht. Und klar, in einer Massenvorlesung kann man auch mal Witzchen oder Demos machen. Doch mehr motivierende Interaktion geht kaum. Eine Umstellung in projektbasiertes Tun wäre sinnvoll, das Problem ist aber der Aufwand. Sie können zu 1.000 Leuten das Gleiche sagen, das ist keine Aufwandserhöhung. Aber wenn Sie projektbasiertes Lernen machen wollen, dann braucht es viel Personal. Heißt: Wie man es besser machen könnte, ist relativ klar. Doch wir haben die Ressourcen nicht. Und insofern muss man den Weg dazwischen finden.
Können Praktika während des Studiums beim Dranbleiben helfen?
Wir bieten an der TU schon viel Praxis an. Aber natürlich kann ein Praktikum in der Wirtschaft helfen – etwa auch wenn es darum geht, herauszufinden, was man (nicht) will.
Vielleicht fällt dabei ja die Entscheidung, doch an der Uni zu bleiben. Wie attraktiv ist eine Karriere in der Wissenschaft?
Es gibt ja diesen Spruch, dass die Wissenschaft eine Leidenschaft sei, die mit Leiden Wissen schafft. Klar erfordert eine Wissenschaftskarriere Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen. Es ist eine Investition in eine ungewisse, aber wahrscheinlich sehr interessante Zukunft. Aber es wird besser, auch weil aufgrund der demografischen Entwicklung nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch an den Hochschulen Personalmangel herrscht. Wir haben etwa größte Mühe, Dissertantenstellen zu besetzen. Und zu meiner Zeit war eine Hausberufung auf eine Professur zum Beispiel noch ein Ding der Unmöglichkeit. Heute sind die Chancen deutlich gestiegen.
Auch für Frauen?
Sicher. Wir schreiben hier an meiner Fakultät aber keine reinen Frauenstellen aus. Allein schon, um erstklassig qualifizierte Kolleginnen nicht zu beschädigen, die eine Stelle bekommen. Und weil es rechtlich sehr, sehr zweifelhaft ist. Man kann was tun, aber man darf sich nicht darüber wegtäuschen: 50 Prozent werden wir in der Elektrotechnik nie erreichen, schon deshalb, weil wir „nur“ zehn Prozent Studentinnen haben. Interessanterweise ist es gerade in Gesellschaften, die die größte Gleichheit anstreben, eher so, dass die Schere sogar weiter aufgeht. Schweden hat etwa (zwischen 2003 und 2010) mal kurz eine „softe“ Geschlechterquote beim Hochschulzugang erlaubt. Mit dem Effekt, dass zwar mehr Männer Veterinärmedizin studieren konnten (weil sie Vorrang vor besser qualifizierten Frauen bekamen), aber nicht mehr Frauen Ingenieurinnen werden wollten. Wenn Menschen frei wählen dürfen, dann tun sie das eben – und man sieht dabei halt auch geschlechtsbezogene thematische Präferenzen. Deshalb ist Opportunity Hiring meiner Meinung nach die beste Lösung. Mit der Ausschreibung von Themen für Masterarbeiten, z. B. im Bereich Signalverarbeitung für Social Media, habe ich die Erfahrung gemacht, dass Frauen in dem Bereich interessierter sind als an klassischeren Themen.
Gibt es auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Thema Leistungsdruck?
Männer sind oft kompetitiver aufgestellt, sie verstehen Wettstreit als Sport. Frauen scheint das vielfach eher zu belasten. Allerdings möchte ich hier klarstellen, dass diese Aussagen im Mittel, aber nicht für Einzelpersonen gelten, denn die Varianzen innerhalb der Gruppen überwiegen bei Weitem die Unterschiede in den Mittelwerten. Gerade auch der Kinderwunsch ist (für Männer wie für Frauen) nicht ganz so leicht mit einem Karrierewunsch zu vereinbaren. (Anmerkung der Redaktion: Was aber auch immer die Gründe sind, weshalb man Druck verspürt: Es gibt – etwa auch vom Student Support der TU – psychosoziale Beratungsangebote, die man annehmen kann und sollte, allerspätestens dann, wenn die mentale Gesundheit leidet.)
Leistung und Selbstoptimierung können auch positiv sein. Wo lohnt sich Ihrer Erfahrung nach das Optimieren?
Das ist eine Frage der persönlichen Präferenz. Mir war immer Freiheit wichtig. Daher habe ich in diese Richtung „optimiert“, mir einen Job ausgesucht, der für mich Freiheit maximiert. Ich habe eine Lehre gemacht, dann studiert und mich dabei immer daran orientiert, was mich interessiert. Diese Sucht nach Anerkennung, die habe ich nicht. Ich versuche, bei der Wahrheit zu bleiben, und dann ist mir egal, was andere über mich denken. Das ist auch der einzige Rat, den ich Studierenden geben kann im Umgang mit Druck: Macht euch nicht vom Urteil anderer abhängig und bleibt bei der Wahrheit. Wer den Likes nachläuft, ist immer Zweiter.